Kieferorthopädisches Screening (bei Kindern und Jugendlichen)
Das kieferorthopädische Screening (frühzeitige Untersuchung auf Zahn- und Kieferfehlstellungen) ist eine präventiv-diagnostische Maßnahme (vorbeugende und untersuchende Maßnahme) zur frühzeitigen Identifikation von Fehlentwicklungen im Zahn- und Kieferbereich. Ziel ist es, behandlungsbedürftige Dysgnathien (Kieferfehlstellungen) und myofunktionelle Störungen (Störungen der Muskel- und Zungenfunktion) rechtzeitig zu erkennen und interdisziplinäre Frühmaßnahmen einzuleiten, um komplexe Therapien im späteren Jugend- oder Erwachsenenalter zu vermeiden.
Zielsetzung und Bedeutung
- Frühzeitige Erkennung von dentoalveolären (zahn- und knochenbezogenen) und skelettalen Anomalien (Knochenfehlentwicklungen)
- Bewertung der orofazialen Funktion (Funktion von Lippen, Zunge und Gesicht)
- Indikationsstellung (Festlegung der Behandlungsnotwendigkeit) für Frühbehandlung oder Überweisung zur Kieferorthopädie (Zahnspangenbehandlung)
- Identifikation von Habits (Gewohnheiten) wie Daumenlutschen oder Mundatmung mit negativen Langzeiteffekten
- Aufklärung der Eltern über kieferorthopädische Prävention (Vorbeugung) und Behandlungsoptionen
Zeitpunkt und Frequenz
- Erstscreening idealerweise im Alter von 4-6 Jahren (Milchgebiss/frühes Wechselgebiss)
- Regelmäßige Kontrolle im Rahmen der zahnärztlichen Individualprophylaxe (individuell angepasste Vorsorge)
- Erneute Bewertung bei erkennbaren Abweichungen im Wachstum oder bei funktionellen Auffälligkeiten
Klinische Screening-Kriterien (Beurteilungspunkte bei der Untersuchung)
- Gesichtsanalyse
- Symmetrie, Profil (Seitenansicht des Gesichts: nach vorne gewölbt, zurückliegend oder gerade), vertikale Dimension (Gesichtshöhe)
- Okklusion (Zusammenbiss) und Bisslage
- Angle-Klassifikation (Einteilung der Bisslage nach einem kieferorthopädischen System)
- Tiefbiss (zu tiefer Biss), offener Biss (Zähne schließen vorne nicht), Kreuzbiss (Zähne stehen seitlich oder vorne falsch herum), Kopfbiss (Zähne treffen Kante auf Kante)
- Zahnstellung
- Engstand (Zähne stehen zu eng), Lückenstand (zu große Abstände), Diastema (Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen), Früh- oder Späteruption (zu frühes oder zu spätes Durchbrechen der Zähne)
- Funktionsdiagnostik (Untersuchung der Funktion)
- Zungenlage, Lippen- und Wangenfunktion
- Atmungsmuster (nasal/oral) (Nasen- oder Mundatmung)
- Artikulation (Aussprache) und Schluckmuster
- Habits und Parafunktionen (Gewohnheiten und unnatürliche Bewegungen)
- Persistierendes Daumenlutschen, Lippenbeißen, Zungenpressen
Dokumentation und Einstufung
- Visuelle und palpatorische Befundung (Beurteilung durch Anschauen und Abtasten)
- Fotodokumentation und intraorale Statusaufnahme (Fotos und Zahnstatus im Mund)
- Einordnung nach kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) (Einstufung zur Beurteilung der Krankenkassenleistung – relevant ab dem 10. Lebensjahr)
- Bei Bedarf: Abformung (Zahnabdruck), Modelle, ggf. Fernröntgenseitenbild (Profil-Röntgenaufnahme) zur Beurteilung des skelettalen Wachstums (Knochenwachstum)
Überweisungskriterien zur Kieferorthopädie (Zahnspangenbehandlung)
- Frühzeitige funktionelle Abweichungen mit potenzieller Progression (Entwicklung einer Verschlimmerung)
- Skelettale Dysgnathien (Kieferfehlstellungen im Knochen) mit Einfluss auf die Gesichtsästhetik
- Bissanomalien (Abweichungen des Zusammenbisses) mit traumatischem Potenzial (Verletzungsgefahr), z. B. frontal offener oder tiefer Biss mit Zahnfleischtrauma
- Hinweise auf Wachstumsstörungen oder Zahnunterzahl (fehlende Zahnanlagen = Aplasie)
- Unzureichende Selbstreinigung durch Fehlstellung → erhöhtes Kariesrisiko (Karies = Zahnfäule)
Interdisziplinäre Aspekte
- Zusammenarbeit mit Logopädie (Sprachtherapie) bei myofunktionellen Störungen
- HNO-Abklärung (Hals-Nasen-Ohren-Untersuchung) bei chronischer Mundatmung oder vergrößerten Rachenmandeln (adenoiden Vegetationen)
- Zusammenarbeit mit Pädiatern (Kinderärzten) bei Syndromen mit orofazialer Beteiligung (mitbetroffenen Gesichtsstrukturen)
- Integration in das Konzept der präventiven Kinderzahnheilkunde (vorbeugende Zahngesundheit im Kindesalter)
Fazit
Das kieferorthopädische Screening (frühzeitige Untersuchung auf Zahn- und Kieferfehlstellungen) stellt einen essenziellen Bestandteil der zahnärztlichen Vorsorge bei Kindern und Jugendlichen dar. Es erlaubt die frühzeitige Identifikation von Anomalien (Abweichungen), die bei rechtzeitiger Intervention (Behandlung) mit geringem Aufwand korrigierbar sind. Die strukturierte Befunderhebung (systematische Untersuchung), dokumentierte Verlaufskontrolle und gegebenenfalls frühzeitige Überweisung zur Kieferorthopädie sichern langfristig eine funktionell und ästhetisch stabile Gebissentwicklung (gesunde Zahn- und Kieferstellung).
Literatur
- Grippaudo C, Paolantonio EG, Luzzi V, Manai A, La Torre G, Polimeni A: Orthodontic screening and treatment timing in preschoolers. Clin Exp Dent Res. 2019;5(1):59-66. https://doi.org/10.1002/cre2.161
- Li XB, Sun J, Zhou D, Lin Y, Liu D, Zhang J et al.: Expert consensus on imaging diagnosis and analysis of early orthodontic patients. Int J Oral Sci. 2025;17:14. https://doi.org/10.1038/s41368-025-00351-1