Dyskinesien

Dyskinesien (ICD-10-GM G24.4: Idiopathische orofaziale Dystonie) sind muskuläre Fehlfunktionen im stomatognathen (Mund und Kiefer betreffenden) System.

Dabei handelt es sich nicht um bewusstes Verhalten, sondern um unbewusst auftretende Reflexabläufe.
Man unterscheidet die primären – verursachenden – von den sekundären – adaptiven Dyskinesien.
Während eine primäre Fehlfunktion zu Gebissanomalien führen kann, so können bereits bestehende Anomalien der Zähne oder des Kiefers eine sekundäre Dyskinesie bedingen.

Einteilung der Dyskinesien

  • Lippenpressen, Lippensaugen und Lippenbeißen
  • Lutschhabit – Daumenlutschen (ICD-10-GM F98.4-: Stereotype Bewegungsstörungen)
  • Mentalishabit – Hyperaktivität (Überaktivität) des Kinnmuskels
  • Mundatmung (ICD-10-GM R06.5: Mundatmung)
  • Sigmatismus (ICD-10-GM F.80.-: Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache) – fehlerhafte Aussprache der S-Laute, Lispeln
  • Viszerales Schlucken – frühkindliches Schluckmuster
  • Zungenpressen

Symptome – Beschwerden

  • Lippendyskinesien: Retrusion oder Protrusion der Frontzähne, sichtbare Bissspuren.
  • Lutschhabit: Vorwölbung der oberen Schneidezähne.
  • Mentalishabit: Retrusion der Frontzähne.
  • Mundatmung: Kariesrisiko, Atemwegsinfekte, Schmalkieferbildung, Kreuzbiss.
  • Sigmatismus: Fehlende korrekte Aussprache des S-Lautes.
  • Viszerales Schlucken: Zunge zwischen den Zahnreihen beim Schlucken.
  • Zungenpressen: Zunge drückt gegen oder zwischen die Zahnreihen.

Lippendyskinesien
Patienten, die an den Lippen saugen, ziehen hierbei die Unterlippe nach innen und legen die oberen Schneidezähne darauf.
Beim Lippenpressen werden Ober- und Unterlippen fest aufeinandergepresst. Hierbei wird eine Retrusion der Inzisiven (Rückverlagerung der Schneidezähne) verstärkt oder verursacht.
Das Lippenbeißen ist meist deutlich an den Bissspuren auf der Unterlippe zu erkennen.

Lutschhabit
Beim Daumenlutschen wird der Daumen im vorderen Anteil des Oberkiefers eingelagert und an den Rückseiten der oberen Schneidezähne abgestützt.

Mentalishabit
Liegt eine Hyperaktivität (Überaktivität) des Musculus mentalis (Kinnmuskels) vor, so führt dies dazu, dass die Unterlippe nach hinten oben gezogen wird und sich den oberen Schneidezähnen von hinten anlagert. Dieses Habit (Angewohnheit) tritt häufig in Kombination mit dem Lippensaugen auf und führt ebenso zu einer Verstärkung bestehender Fehlstellungen der Zähne und des Kiefers.

Mundatmung
Patienten mit habitueller Mundatmung weisen zahlreiche Symptome und Beschwerden auf.
Dazu zählen ein erhöhtes Kariesrisiko sowie ein erhöhtes Risiko für Atemwegsinfekte.
Die Zunge, die normalerweise am Gaumen liegen sollte, sinkt nach unten und es treten folgende Symptome auf:

  • Schmaler Gaumen
  • Schmalkiefer im Oberkiefer
  • Ausgeprägter Zahnengstand
  • Kreuzbiss

Im Erwachsenenalter haben die Patienten ein charakteristisches Aussehen, welches oft als Facies adenoidea bezeichnet wird. Das Gesicht ist lang und schmal, der Lippenschluss fällt zwanghaft schwer und die Schneidezähne stehen hervor.

Sigmatismus
Es gibt verschiedene Formen des Sigmatismus, die häufigsten sind:

  • Sigmatismus interdentalis – Zwischenzahnlispeln – englischer "th"-Laut
  • Sigmatismus adentalis – Pressen der Zunge an die Rückseiten der oberen Schneidezähne – "sch"-Laut
  • Sigmatismus lateralis – Anlagerung der Zunge an die Seitenzähne – Raschel-Laut
  • Sigmatismus stridens

Gemeinsames Symptom aller Formen des Sigmatismus ist die fehlerhafte Aussprache des S-Lautes.

Viszerales Schlucken
Beim viszeralen Schlucken lagert sich die Zunge während des Schluckaktes zwischen die Zahnreihen. Ihre normale Position sollte sich jedoch spätestens bis zum vierten Lebensjahr bei geschlossenen Zahnreihen im Mundraum befinden.

Zungenpressen
Beim Zungenpressen wird die Zunge fest gegen den Gaumen und die Zahnreihen gedrückt und kann sich auch zwischen die Zahnreihen einlagern.

Pathogenese (Krankheitsentstehung) – Ätiologie (Ursachen)

  • Lippendyskinesien: Sekundär infolge von Zahn- und Kieferfehlstellungen.
  • Daumenlutschen: Physiologisch im Kleinkindalter, persistierendes Lutschen oft durch seelische Probleme bedingt.
  • Mentalishabit: Möglicherweise erblich bedingt.
  • Mundatmung: Habituelle Dysfunktion oder organische Ursachen wie Polypen, vergrößerte Gaumenmandeln.
  • Viszerales Schlucken: Sollte sich bis zum vierten Lebensjahr in normalen Schluckakt wandeln.
  • Zungenpressen: Primäres oder sekundäres Pressen, kann durch Fehlstellungen oder anatomische Besonderheiten verursacht werden.

Lippendyskinesien
Sie entstehen häufig sekundär infolge von Zahn- und Kieferfehlstellungen.
Das Lippensaugen wird häufig bei Patienten beobachtet, die bereits eine Unterkiefer-Rücklage haben, oftmals sind die oberen Schneidezähne protrudiert (nach vorn verlagert), während die unteren Schneidezähnen eher retrudiert (nach hinten verlagert) stehen.
Lippenpressen ist eher bei Patienten mit retrudierten (zurückstehenden) Frontzähnen zu beobachten, wohingegen das Lippenbeißen mit einer protrudierten (nach vorn verlagerten) Oberkieferfront einhergeht.

Daumenlutschen
Daumenlutschen gilt im Kleinkindalter als physiologisch. Im Alter von etwa drei bis fünf Jahren hört das Lutschen zumeist von allein auf. Persistiert es jedoch bis über das sechste Lebensjahr hinaus, so wird als Ursache ein seelisches Problem des Kindes angesehen.

Mentalishabit
Es wird angenommen, dass das Mentalishabit unter anderem erblich bedingt ist. Eine familiäre Häufung wurde beobachtet.

Mundatmung
Mundatmung tritt entweder in Form einer habituellen (angewöhnten) Dysfunktion auf oder aber es liegt eine organische Ursache vor – man spricht dann von einer konstitutionellen Mundatmung. Ursache ist zumeist eine gestörte Nasenatmung durch Polypen oder hyperplastische (vergrößerte) Gaumenmandeln.

Viszerales Schlucken
Normalerweise wird der viszerale Schluckakt des Säuglings (Kiefer geöffnet, Zunge zwischen den Kiefern) im Laufe des Zahndurchbruchs der ersten Dentition (Milchzähne) durch einen anderen, den somatischen Schluckakt (Kiefer geschlossen, Zunge im Mundraum) abgelöst. Bis zum vierten Lebensjahr sollte der Übergang erfolgt sein. Ein falsches Schluckmuster kann sowohl zu Zahn- und Kieferfehlstellungen als auch zu Sprachproblemen führen.

Zungenpressen
Das Zungenpressen tritt entweder aufgrund einer bestehenden Zahn- oder Kieferfehlstellung auf oder aber es handelt sich um ein primäres Pressen, welches dann Zahn- und Kieferfehlstellungen verursachen kann. Auch eine Makroglossie (vergrößerte Zunge) oder eine Hypoglossie (verkleinerte Zunge) sowie eine hyper- oder hypotone (zu starke oder zu schwache) Zungenmuskulatur können zum Zungenpressen führen.
Mitunter lagert sich die Zunge nach Milchzahnverlust in die Lücke ein und behält diese Position bei, auch wenn bereits die bleibenden Zähne durchgebrochen sind.
Auch bei offenem Biss oder Protrusionen der Inziven (Vorverlagerung der Frontzähne) beider Kiefer kann die Zunge die bestehenden Anomalien verstärken.

Folgeerkrankungen

  • Verstärkung von Zahn- und Kieferfehlstellungen.
  • Ästhetische Beeinträchtigung und erschwerte Zahnreinigung.

Dyskinesien können bestehende Zahn- und Kieferfehlstellungen noch verstärken und somit deren Behandlung erheblich erschweren.
Lippendyskinesien können zu stark pro- oder retrudierten Frontzähnen führen.
Daumenlutschen nach dem sechsten Lebensjahr führt zu einem ausgeprägten Wachstum des Oberkiefers nach vorn, die oberen Schneidezähne stehen vor und die unteren zurück, der Biss ist offen und das Wachstum der Kiefer wird stark beeinträchtigt.
Mundatmung erhöht das Risiko für Karies und Atemwegsinfekte und kann zu massiven Zahn- und Kieferfehlstellungen führen, wie einem stark ausgeprägtem Schmalkiefer, Zahnengstand und Kreuzbiss.
Beim Zungenpressen wird die Zunge zwischen den Zähnen eingelagert, was zu einem offenen Biss im Front- oder Seitenzahnbereich führen kann oder bestehende Anomalien noch verstärkt.
Liegt ein ausgeprägtes Mentalishabit vor, kann das Wachstum des Unterkiefers in der Sagittalen (nach vorn) gehemmt werden.

Diagnostik

Dyskinesien werden vom Zahnarzt oder Kieferorthopäden anhand der für sie charakteristischen Symptome festgestellt.

Oftmals reicht ein einfaches Beobachten des Kindes durch den Behandler oder auch das Befragen der Eltern aus, um Dyskinesien festzustellen. Anhand des Zahn- und Kieferbefundes wird die Verdachtsdiagnose bestätigt, sobald typische Befunde vorliegen.

Anschließend muss festgestellt werden, ob eine primäre oder sekundäre Dyskinesie vorliegt. Verringert sich durch das Abstellen eines Habits – zum Beispiel mithilfe einer Mundvorhofplatte – auch die Zahnfehlstellung, so kann davon ausgegangen werden, dass eine primäre Störung vorlag.

Therapie

Um Dyskinesien sinnvoll behandeln zu können, muss zunächst festgestellt werden, ob es sich um primäre oder sekundäre Dyskinesien handelt. Ebenso muss beispielsweise beim Daumenlutschen auch der seelischen Komponente solcher Habits Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Folgende Therapiebereiche können zum Einsatz kommen:

  • Logopädie – Sprachheilkunde
  • Myofunktionelle Therapie – Muskelübungen für den Mund- und Gesichtsbereich
  • Kieferorthopädie
  • Psychotherapie bei seelischen Ursachen

Therapie der primären Dyskinesien
Liegt eine primäre Dyskinesie vor, so muss diese selbst behandelt werden. Nicht selten kommt es dann auch zur Verbesserung von Zahnfehlstellungen, beispielsweise zum Schluss eines offenen Bisses nach dem Abgewöhnen des Daumenlutschens.
Dyskinesien werden oftmals im Rahmen einer logopädischen Therapie behandelt. Die Behandlung erfolgt in der Regel im Kindesalter und zielt darauf ab, fehlerhafte Funktionsmuster zu durchbrechen und durch korrekte muskuläre Abläufe zu ersetzen.
Auch der Einsatz einer Mundvorhofplatte kann helfen, Habits wie Lutschen oder Mundatmung abzustellen und so dazu beitragen, Funktionsmuster zu normalisieren.
Bei Mundatmern sollte immer ein Hals-Nasen-Ohrenarzt hinzugezogen werden, um eine behinderte Nasenatmung als Ursache auszuschließen.

Therapie der sekundären Dyskinesien
Liegt jedoch eine Zahn- oder Kieferfehlstellung der Dyskinesie zugrunde, so muss kieferorthopädisch behandelt werden.

Je nach Fehlstellung können unter anderem folgende herausnehmbare oder festsitzende Apparaturen zum Einsatz kommen. Dies ist individuell verschieden und muss nach ausführlicher Analyse durch den Kieferorthopäden entschieden werden.

Literatur

  1. Kahl-Nieke B: Einführung in die Kieferorthopädie. Urban & Fischer Verlag; München-Jena 2001
  2. Weber T. (2017). Memorix Zahnmedizin (5. unveränderte Aufl.). Thieme Verlag.